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Dževad Karahasan und Herbert Gantschacher erörtern Alternativen zur Krankheit Krieg

"Gespräch als Kunst"

20.03.2024
Im Islam sind nämlich alle geoffenbarten Religionen, alle "Buchreligionen", wie es im Koran heißt (das sind, neben dem Islam, der Mazdaismus, der Judaismus und das Christentum, also alle Religionen, die eine Offenbarung kennen), als wahr anerkannt.

Das Gespräch ist eine Kunst der Künste, diese Erfahrung können wir schon bei Platons Dialogen machen. Das Gespräch ist also eine der Urformen. Selbst Politik kann eine Kunst sein, wenn Politik als Kunst und nicht bloß als Technologie der Macht praktiziert wird. Und das Platonsche Dialogmodell beweist die Kunst der gegenseitigen Ergänzung. In diesem Sinn sind Fra Anđeo Zvizdović und Sultan Mehmed II. al-Fatih Künstler, weil beide das Gespräch akzeptieren und in Folge Frieden schaffen. Heute gibt es keinen Frieden, weil wir vermutlich verlernt haben, Gespräche zu führen.
Am 28. Mai 1463 empfing der türkische Sultan Mehmed II. al-Fatih (der Eroberer) Fra Anđeo Zvizdović den Provinzial der Franziskanerprovinz Bosna Argentina (Silbernes Bosnien) "auf dessen" Wunsch, wie es wohl in der Diplomatensprache heißt. Ich weiß nicht, wie lange ihr Gespräch dauerte und welchen Verlauf es nahm, ich weiß nur, dass die Folgen dieses Gesprächs über fünf Jahrhunderte andauerten. Danach zu urteilen, ist ihre Begegnung zweifellos zu jenen Ereignissen zu zählen, die Geschichte machen.
Erinnern wir uns der Begleitumstände: Die Türken hatten gerade die Einnahme Bosniens zu einem Ende gebracht, und aus den so genannten christlichen Ländern, also vom europäischen Norden und Westen, woher Bosnien die geforderte und erwartete Hilfe zur Verteidigung gegen die Türken nicht zuteil geworden war, kamen jetzt Aufrufe, ja Aufforderungen, die katholische Bevölkerung Bosniens auszusiedeln, den Türken bis zum letzten Mann Widerstand zu leisten, kollektiven Selbstmord zu begehen oder ein Viertes, ganz gleich was, zu tun, sich aber auf jeden Fall und um jeden Preis zu weigern, in einem Land zu leben, in dem "die Ungläubigen" herrschen. Fra Anđeo blieb offensichtlich taub gegenüber solchen Aufrufen, genauso wie vorher die Herrscher Ungarns und Österreichs, Spaniens und Frankreichs, des Vatikanstaates und des Heiligen Römisches Reiches deutscher Nation taub geblieben waren für die Aufrufe, Bosnien beizustehen. Er rief ein Volk weder zum kollektiven Selbstmord auf, er ersuchte um einen Empfang beim türkischen Sultan und bot ihm die politische Loyalität der bosnischen Katholiken an, wenn ihnen die türkischen Machthaber die Glaubensfreiheit garantieren. Der türkische Sultan Mehmed II., genannt der Eroberer, nicht wegen der Eroberung Bosniens, sondern weil er Konstantinopel erobert hatte, kam Fra Anđeo Ersuchen nach und stellte ihm eine Ahdnama aus, einen Freibrief, der allen bosnischen Katholiken die Unantastbarkeit der Religion, des Eigentums und der Person garantierte.

Fra Anđeo wusste sicherlich, dass sein Schritt genau genommen ein Zitat, ein konsequentes Wiederholen dessen war, was sein große Vorbild, der Begründer des Franziskanerordens, der heilige Franz von Assisi, im Jahr 1219 getan hatte, als er den ägyptischen Sultan al-Malik al-Kamila aufsuchte. Der fünfte Kreuzzug war gerade unrühmlich fehlgeschlagen, im katholischen Europa wurde noch immer - einem Gelöbnis gleich - die ideologisch-theologische Formel des heiligen Bernhard von Clairvaux vorgebetet, derzufolge "der Christ im Tod des Heiden seinen Ruhm sucht" - und da geht der heilige Franziskus hin und will den Besieger der Kreuzfahrer bekehren. So naiv sein Unterfangen auch geschienen haben mag, Franziskus gelangte tatsächlich dorthin, wohin die Kriegsleute nicht hatten gelangen können, in Verhandlungen erreichte er mehr als sie und konnte später seinen herzhaften Spott über die Kreuzritterheere und die ganze Kreuzzugsideologie ausgießen.

Der Sultan tat sein übriges an jenem bedeutenden 28. Mai 1463 gar nichts Besonderes, er tat einfach das, wozu ihn seine Religion und seine kulturelle Tradition und vermutlich auch seine vernunftgeleiteten Staatsinteressen verpflichteten. Im Islam sind nämlich alle geoffenbarten Religionen, alle "Buchreligionen", wie es im Koran heißt (das sind, neben dem Islam, der Mazdaismus, der Judaismus und das Christentum, also alle Religionen, die eine Offenbarung kennen), als wahr anerkannt. Mehmed ist demnach als Muslim und sich auf den Islam berufender Herrscher durch sein Heiliges Buch verpflichtet, den Angehörigen jeder Buchreligion Glaubensfreiheit zu sichern und die Unantastbarkeit von Besitz, Glaube und Leben zu garantieren, so dass er bei der berühmten Begegnung mit Fra Anđeo nichts weiter als seine Arbeit tat und seiner Verpflichtung nachkam.

Die Folgen aber lassen sich in aller Kürze als bosnisches Kultursystem bezeichnen, als die für Bosnien kennzeichnende Lebensform. In dem Augenblick, als Fra Anđeo Zvizdović das Zelt des Sultan Mehmed II. verlässt, beginnt das bosnische Kultursystem zu entstehen, das in seiner Struktur nach äußerst interessant und einigen Kennzeichen nach vermutlich einzigartig ist. Der Freibrief nämlich, den Fra Anđeo mitnehmen durfte, ermöglichte den Verbleib der katholischen Bevölkerung in Bosnien und damit ein gemeinsames Leben mit den muslimischen und den orthodoxen Bewohnern dieses Landes. Als gut 30 Jahre nach dieser Begegnung 1492 die sephardischen Juden aus Spanien vertrieben wurden und einige von ihnen nach Bosnien gelangten, waren bereits alle technischen Voraussetzungen gegeben für die Entstehung dessen, was ich als bosnisches Kultursystem bezeichne: Auf relativ kleinem Raum fanden sich Vertreter aller vier Religionen und der aus ihnen abgeleiteten Kulturparadigmen zusammen, die aufgrund der technischen Gegebenheiten gezwungen waren zu kohabitieren und Verhaltensformen zu suchen, die dieses gemeinsame Leben erträglich machten, indem sie bei dieser Suche auch gegenseitige Beziehungen aufbauten, die sich mit dem Goetheschen Ausdruck als "Duldung ohne Gleichgültigkeit" bezeichnen ließen. Den erwähnten technischen Voraussetzungen gilt es aber noch eine innere, vielleicht psychologische Bedingung hinzuzufügen - nämlich dass alle diese Menschen, ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit, in ihrem Lebensraum auch tatsächlich zu Hause, also keine Minderheit, keine Gäste und auch nicht "Einheimische zweiter Klasse" sind.

Dževad Karahasan war und ist Dichter, Dramatiker und Dramaturg von ARBOS - Gesellschaft für Musik und Theater

Herbert Gantschacher ist Autor, Regisseur und Produzent